Sonntag, 28. Februar 2016

Aus dem Fuhrpark XVII: Vickys wundersame Veränderung

Traurig lag der Victoria-Rahmen auf einem Fahrradflohmarkt herum. Ein typisches Schlachtopfer im Dornröschenschlaf: keine Laufräder, Kurbeln oder Lenker. Nur Tretlager und Gabel samt Steuersatz und offenbar nachgerüsteter Vorbau steckten in dem mitgenommenen Rohrsatz. Eigentlich Schrott. Und doch: Als ein paar Sonnenstrahlen auf den metallicroten Lack fielen, leuchtete mich das Fahrradskelett plötzlich verführerisch an. Schriftzüge und Embleme waren stellenweise abgeschuppert, hier und da aber ganz okay. Der Lack zwar pateniert, aber er strahlte eine anziehende Qualitätsanmutung ab. Daraus muss doch noch was zu machen sein. Nach kurzer Verhandlung mit dem Verkäufer nahm ich den alten Victoria-Rahmen für 15 Euro mit. Anschließend lag er jahrelang in meiner Werkstatt. So weit die Vorgeschichte. Vor ein paar Wochen kramte ich ihn hervor und machte mich an die Arbeit.
Der Auffindzustand: Dieses Skelett eines Victoria Vicky kostete mich 15 Euro

Ein Singlespeed sollte es werden, möglichst solide, einfach und dennoch attraktiv. Und ganz wichtig: Ich wollte möglichst wenig Kohle in den Um- und Aufbau investieren. Darum krame ich in Kisten und Kartons. Was habe ich noch? Was läst sich für das Victoria verwenden? Schnell sind zwei sehr ähnliche etwas breitere 622-Laufräder aus Alu von Tourenrädern gefunden. Lager auf, säubern, frisches Fett rein - schon laufen die Räder wieder spielfrei und leichtgängig. Aber, wie immer, rund ist anders. Die Dinger eiern. Also ab in den Zentrierständer. Das ist zwar immer eine langwierige Aufgabe, aber eine fast meditavie Tätigkeit, die mich gut "entspannt", auch wenn man den Speichen genau das Gegenteil beibringt.
Anpassen des zentrierten Hinterrades
Schon jetzt nimmt der künftige Singlespeed vor meinem geistigen Auge Gestalt an. Entscheidend für den Charakter eines Rades ist die Reifenwahl, also vor allem Breite und Farbe der Pneus. Nach kurzer Internetrecherche steht fest: weiss in 40er Breite, das macht sich gut am roten Rahmen. Die Schwalbe Little Big Ben kosten bei BOC nur knapp 14 Euro - eine gute, stylische Wahl für mein vorgegebenes Minimal-Budget. Das Freilaufritzel mit 17 Zähnen von Dicta bestelle ich bei CNC. Praktisch ist, dass dieser Online-Versand gute Preise hat und in Hamburg sitzt. Mittwochs und Donnerstags gibt es Selbstabholung. Das Ritzel kostet dort übrigens sieben statt zwölf Euro UVP. Das freut die Geldbörse.

Schwalbe Little Big Ben passen gut
Mit den eher breiten Little-Big-Ben-Reifen war klar, dass das Rad eine Art Halbrenner wird. Auch den dazu passenden Lenker fand ich in meinem Werkstatt-Fundus. Er nennt sich Trainingsbügel, kommt ohne Erhöhung aus und erzeugt so eine sportliche Optik - genau richtig. Manchmal hat man Glück: Lenker-Klemmung passt, also alles festschrauben und schon hat das Rad ein perfektes Frontend.

Probemontage des Little Big Ben-Reifens
Ähnlich reibungslos klappt es mit Sattel und Sattelrohr. Beides findet sich ebenfalls in der Ersatzteilkiste - wunderbar. Alles da, Kosten null Euro. Jetzt macht sich bezahlt, dass ich brauchbares Material gerne vom Flohmarkt mitbringe. Der Sattel ist braun, sieht nach Leder aus, ist aber aus Kunststoff. Natürlich wäre mir ein Brooks lieber. Doch der kostet neu mindestens 70 Euro, gebraucht mit Glück 20. Und ich freue mich ja auch darüber, dass Lagerteile aus dem Lager verschwinden.

Gleiches gilt für den Kurbelsatz. Beim Tretlager handelt es sich um eine Thompson-Version mit Keilachse - 70er-Jahre Massenware also. Darum findet sich auch schnell ein passendes Stahlkettenblatt mit 170er Kurbeln. Einziges Manko: Das Kettenblatt ist stark verbogen; eigentlich auch ein Fall für die Tonne. Doch ich habe ja meinen Recycling-Vorsatz. Darum spanne ich das Blatt in den Schraubstock, drücke und biege daran wie verückt. Ohne Erfolg. Im Gegenteil: Die seitliche Unwucht wird eher schlimmer statt besser. Zum verrückt werden. Hauptproblem ist das richtige Korrekturmass zu finden und das Ergebniss der Biegebemühungen durch Fluchten auf einer ebenen Tischplatte zu kontrollieren. Selbst eine Präzisionschieblehre bringt keinen durchschlagenden Erfolg. Das Kettenblatt eiert auch nach zahlreichen Biegungen immer noch stark. Gibt's doch nicht.

Dann erinnere ich mich an den Trick eines Profimechanikers, der für ein Rennteam schraubt. Der korrigiert ein eierndes Kettenblatt am Rad mit einem Hammer. Ab mit dem Kettenbaltt auf die Keilachse, aber da lauert schon das nächste Problem. Neue Achskeile sind qualitativ mässig, eher weich im Material und der Keilwinkel nicht ausgeprägt genug. Meine neuen Keile passten nicht weit genug durch die Löcher; die Sicherungsmuttern finden folglich nicht genug Futter. Trotz heftiger Hammerschläge kann ich den Keil auf der Antriebsseite nicht weit genug durchtreiben. Beim Festziehen der Mutter ruiniere ich das Gewinde - das ist Pfusch. Wieder raus damit. Mit der Flex arbeite ich den Keil leicht nach; anschließend passt er besser durchs Loch und lässt sich bombenfest mit dem 10er-Ringschlüssel verschrauben - so soll es sein.

Jetzt das Kettenblatt rotieren und die Seitenschläge orten. Dann mit dem Hammer gefühlvoll druff auf die Beulen und siehe da: Das Blatt dreht sich zunehmend runder. Eine absolutes Null-Grad-Ergebnis kriege ich nicht hin, aber das wird auch ab Werk nicht geliefert worden sein. Nach so viel Mühe stellt sich eine gewisse Befriedigung über das erzielte Resultat ein. Natürlich ist es Quatsch so viel Arbeit ins Richten eines Kettenblattes zu stecken. Stahl-Kettenblätter samt Kurbeln und Tretlager gibt es bei E-Bay ab 15 Euro, wenn auch nicht unbedingt in hoher Qualität. Für meinen Zweck hätte so ein Neuteil aber allemal gereicht. Aber Heilemachen ist irgendwie cooler als kaufen und ich wollte ja möglichst wenig investieren.
Dicta-Freilauf mit 17 Zähnen
Langsam wird's: Laufräder drin, Lenker dran, Kurbeln auch. Fahren könnte ich also fast schon, aber nicht anhalten. Das ist gefährlich, ja lebensbedrohend. Darum brauche ich Bremsen, gute Bremsen. Zum Glück habe ich reichlich alte Weinmann-Zangen gesammelt. Für vorne ist schnell ein adäquates Seitenzug-Exemplar gefunden, sogar mit der richtigen Bolzenlänge.

Viel problematischer ist es hinten. Im Original ist das Victoria Vicky, so der offizielle Name, ein Tourenrad mit Torpedo-Dreigang-Nabe, also mit Rücktrittbremse. Eine Aufnahme für eine Felgenbremse gibt es nicht, Canti- oder V-Brake-Anlötsockel schon gleich gar nicht. Aber da ist ein Loch in der Hinterbaustreben-Verstärkung. Ein Montageversuch mit sehr langschenkligen Bremszangen ist unbefriedigend, denn die Bremsschuhe zielen statt auf die Felge auf den Reifen, weil die Entfernung zwischen Bolzen-Montagepunkt und Felgenhorn einfach zu groß ist. Was tun? Antwort: Umkonstruktion der Aufhängung!
Umbau der Hinterradbrems-Aufnahme
Im Baumarkt kaufe ich ein zwei Millimeter starkes Verbindungsmetall in zwei Zentimeter Breite, säge es in der Mitte durch, bohre zwei Befestigungslöcher sowie ein Loch für die Aufnahme des Befestigungsbolzen der Bremszange. Nun montiere ich die beiden Metallstreifen jeweils vor und hinter der Hinterbaustreben-Verstärkung. Sie werden mit zwei M6-Schrauben gesichert. Unter der Verstärkung drücke ich die beiden Streifen nun mit einer Rohrzange zusammen. Da das jeweils dritte Bohrloch nicht exakt fluchtet, muss ich noch mit der Rundfeile nacharbeiten, bis der Bremsbolzen sauber durch passt. In meiner Bremsenkiste finden sich leider überwiegend Vorderradbremsen. Die haben einen langen Befestigungsbolzen mit zu kurzem Gewinde für eine Hinterbaubefestigung, die nur etwa vier Millimeter stark ist. Ich entscheide mich für eine Mittelzugbremse und verlängere mit einem Windeisen das Gewinde auf dem Bolzen - viel Fummelei, doch schließlich passt die (Vorderrad)bremse in der richtigen und effektiven Ausrichtung an den "bremsenlosen" Hinterbau. Macht schon Spaß, manchmal konstruktive Kreativität an den Tag legen zu müssen. Bin gespannt, ob das Ding auch bremst.
Weinmann-Bremse vorn

Nun fehlt noch die Bremsansteuerung, also Züge und Hüllen. Da müssen Neuteile her, denn Züge rosten und funktionieren dann nur "klebrig". Bremshüllen als Meterware und Züge kosten zum Glück nur wenige Euro und kommen meist mit End- und Klemmhülsen. Aber da fehlt doch noch was? Richtig! Bremshebel könnten nicht schaden. Welche passen am besten an den Trainingsbügel. Klar, ich hätte noch ein paar klassische Weinmann-Hebel. Nicht schlecht, aber dann fielen mir die stylischen "Barend-Hebel" ein, die man gerne an englisch angehauchten Sporträdern findet. Die gibt es beispielsweise bei Bike-Mailorder für 25 Euro - ein fairer Preis. Die Dia-Compe DC 188 haben eine Innenklemmung von 22 Millimeter und sollten passen. Ein paar Klicks am Computer und zwei Tage später liegen die beiden Hebel in der Post - manchmal sind Onlineshops ein Seegen.
Montage der Dia Compe DC 188 Barend-Bremshebel

Saugend verschwinden die Bremshebelklemmungen in den beiden Lenkerenden und lssen sich mit einer Inbusschraube bombig befestigen. Die Hebel positioniere ich so, dass sie genau nach unten zeigen; sieht am besten aus, finde ich. Mitgeliefert werden zwei passende Anschlaghülsen für die Hüllen. All das passt prima. Jetzt noch die Hüllen ablängen, durchkneifen, Endhülsen rauf, Züge durchstecken und an den Lochschrauben der Bremsen fixieren. Diese Arbeiten sind Routinesache; nur das schleiffreie Einstellen der Bremse ist wie immer etwas fummelig. Jetzt noch das Bremshebelgefühl und -spannung checken - fertig.

Was noch fehlt ist die funktionale Dekoration, sprich Lenkerband. Weil's klassich sein soll, entscheide ich mich für Korkband des englischen Kultmarke BLB (Bricklane Bikes). Clevererweise verschwinden die Bremshüllen unter dem stramm gewickelten Lenkerband und sorgen für eine cleane Optik rund um den Vorbau - gefällt mir gut. Lenkerband richtig gut zu wickeln, ist eine echte Kunst; ich beherrsche sie nur mässig. Keine Ahnung wie viele Lenker es bedarf, bis man das perfekt hinkriegt. Vor allem auch der Abschluss mit schwarzem Tape will gekonnt sein. Mein Ergebnis ist so lala.  Zum Glück finde ich in einer Kleinteiledose sogar noch zwei passende Schellen fürs Oberrohr, die den hinteren Bremszug fixieren.
BLB-Lenkerband aus Kork für den letzten Schliff


Letzter Arbeitsschritt: die Kette! Das mache ich immer ganz zum Schluss, weil es auch bei nagelneuen Ketten immer schmierige Finger gibt und darunter Rahmen und Reifen leiden. Kette ist wichtig. Kürzlich konnte ich bei einer Haushaltsauflösung mehrere Wippermann Rotstern-Ketten günstig kaufen - genau das richtige für mein Projekt. Die Kette ist noch in Originalverpackung, eingewickelt in Wachspapier und bestens gefettet. Irgendwie wirkt sie hochwertiger als Neuware. Mag täuschen, aber qualitativ strahlt sie höchste Solitität ab. Bei E-Bay wird solche New Old Stock (NOS)-Ware für rund 25 Euro gehandelt.

Nun sind auch die Kette und Pedale dran, das Rad damit fertig. Prüfend blicke ich es an. Wirklich alles fertig? Alles dran? Ja, tatsächlich. Brems- und Kettenspannung stimmen. Der Antrieb arbeitet fast lautlos, die Räder drehen frei. Und auf den Reifen sind 4.5 bar Luftdruck.
Wippermann Rotstern-Kette am mühsam zentrierten Kettenblatt

Zeit für eine grobe Kostenbilanz:
Rahmen 15 Euro
Reifen 28 Euro
Felgenbänder 3 Euro
Freilaufritzel 7 Euro
Bremshüllen und -züge 7 Euro
Bremshebel 25 Euro
Lenkerband 12 Euro
Pedale 10 Euro
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Macht 107 Euro Gesamtkosten an Material. Eine schmeichelhafte Rechnung, da ich viele Alt- und Lagerteile verwendet habe. Ich denke für Antrieb, Lenker, Sattel und Co. sollte man nochmals gut die gleiche Summe veranschalgen. Am Ende kommt also ein stylischer Neuaufbau für rund 200 bis 250 Euro Selbstkosten dabei heraus - vorrausgesetzt man kann selber schrauben. Gibt man das Projekt in Profihände und muss die gängie Stundensätze bezahlen, dürfte die Summe schnell auf das doppelte steigen. Nur mal so zum Vergleich: Bei der Internet-Discountmarke Einzig-Bikes kostet ein stylisches Singlespeed ab 300 Euro. Wie es dann mit Qualität, Dauerhaltbarkeit, Service etc. aussieht? Keine Ahnung. Ist dann eher so eine Art H&M-Fahrrad - Massenware aus China eben, wenig individuell und für den schnellen, nicht nachhaltigen Konsum ausgerichtet.
Die Billig-Pedale sehen gut aus, haben aber schlechte Lager
Nur zwei Kleinigkeiten kann ich noch erledigen: erstens die linke Seite der Hinterachse kürzen. Sie ragt weit aus dem Ausfallende heraus, weil die Nabe einst eine Fünfgang-Schraubkassette für ein Rennrad aufnahm. Zweitens die Achsen mit passenden Flügelmuttern bestücken; würde besser aussehen als einfache Sechskantmuttern. Mal sehen, wo ich die finde.

Ach, und dann fehlt natürlich noch die Probefahrt, der Härtetest für Bremsen und Tretlager. Erfahrungsgemäss ist das immer noch was nachzubessern oder zu optimieren. So bald es wie heute wieder sonnig ist und trocken, geht es los.

Und fertig: Aus dem Victoria Vicky Tourenrad wurde ein ansprechendes Sportrad im Halbrenner-Stil


Nachher...


... und so sieht das Victoria Vicky im Original aus



2 Kommentare:

  1. Interessanter Beitrag, vielen Dank. Ich recycle auch gerne, daher ein paar gute Tricks dabei (Kettenplatt richten mit Hammer z. B.)
    Übrigens: Die "Hinterbaustreben-Verstärkung" heißt Pletscher-Platte-

    Gruß

    ElGato

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  2. Starke Arbeit und super geschrieben!

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