Donnerstag, 16. Januar 2014

Fahrradversteigerung: Schrott oder Schnäppchen?

In einer Millionenmetropole wie Hamburg sammelt sich viel an. Auch jede Menge herrenlose Fahrräder. Was Polizei und Behörden von den Straßen holen, wandert aber nicht in den Schrott, sondern ins zentrale Fundbüro in Altona. Dort wird es erst verwahrt, dann versteigert. Wenn ich Zeit habe, bin ich gerne dabei. So wie gestern morgen.

Schon um neun Uhr ist der Saal voll. Rund 200 Leute drängeln sich in der Versteigerungshalle des Vivo-Gebäudes in Hamburg-Altona. Nebenan ist es schick. Wo einst Nissen-Hütten standen gibt es heute Cafe, Läden und gemütlichen Sitzgelegenheiten. Hier in der Halle dagegen wirkt allest äußerst nüchtern - ein quadratischer Raum mit nackten Betonwänden, grellem Neonlicht und einer Bühne, die spießig mit typischen Büro-Palmen begrünt ist. Freiwillig will man sich hier eigentlich nicht lange aufhalten. Doch es kommen immer noch mehr Besucher. Sie alle drängt es den kalten Stahlzaun, über die sie mit langen Hälsen auf Fahrräder gaffen - Fahrräder, die ab zehn Uhr versteigert werden.
Näher ran ist nicht. Ob ein Rad gut oder schlecht, heil oder kaputt, fahrbar oder wertlos ist, können die Neugierigen nur erraten. Ein geübter Blick auf die Details, Markennamen und Beschaffenheit der Räder ist also nötig. Je näher man ran kommt, desto besser. Darum das Gedränge. Die Szenerie hat was von einem Zoo. Wie an einem Gehege begaffen neugierige Besucher die Fahrräder wie seltene Tiere.

Für mich ist heute nichts dabei. Zwei-, dreimal lasse ich den Blick übr die 150  Drahtesel schweifen - viel Kaufhausware, viele Damenräder, ein paar BMX, kaum Kinderräder, keine Renner. Schade! Aber was ist das? Moment mal. Ganz hinten an der Wand steht ein giftgrüner Oldtimer. Die Farbe schreit: "Ich bin aus den 70ern." Ich kneife die Augen zusammen, versuche zu erkennen, was da genau parkt. Ein Klapprad, so viel ist klar. Ein 24er. Aber die Marke kann ich nicht erkennen. Wahrscheinlich ein Rixe, wegen des dicken Sattelrohrs. Auf einem kleinen Etikett kann ich die laufende Nummer erkennen: die 70. Oh Man, da muß ich lange warten; wahrscheinlich über eine Stunde. Ich hole mir erstmal einen Kaffee.

Um Punkt zehn Uhr geht es los. Der Auktionator erklärt die Regeln: "Gekauft wie besehen. Keine Reklamationen. keine Rückgabe, keine Schecks, keine Kreditkarten, nur Barzahlung." Als erstes preist er aber kein Fahrrad an, sondern einen Kinderwagen. "Ein Euro!" Wer bietet einen Euro?" Nichts. Kinderwagen will hier keiner. "Leute, los jetzt. Nur ein Euro" Hinten hebt einer die Hand. Dann gibt der Versteigerer Gas: "Zum Ersten, zum Zweiten und verkauft an den Herrn dahinten. Na, also geht doch." Zweites Los ist ein Rollator. Auch der geht nur zäh und billig weg. Endlich das erste Fahrrad - "vier Euro, sechs,  zehn, 16, 20, 25..." Jetzt ist der Saal warm. Gleich mehere Hände gleichzeitig wollen das gut erhaltene Tourenrad haben. Nach rund einer Minute steht es bei 70 Euro. Zu dem Preis hebt nur noch einer die Kralle. "Verkauft!"

Und so geht es munter weiter, Schlag auf Schlag, Rad auf Rad kommt unter den Hammer, obwohl der Auktionator gar keinen hat und alles per Handzeichen regelt. Er sitz auf einem verchromten Barhocker und macht auch Sprüche wie in der Kneipe. "Hey, will kein das flotte Damenrad haben oder was?" ruft er, wenn es mal stockt. Schon geht eine Hand nach oben. "Na also, geht doch." Eine junge Frau hat ein schönes Gazelle-Rad ersteigert. Sofort geht sie zur Kasse und zahlt 50 Euro. Das Mädel freut sich über ihr Schnäppchen. Aber war es wirklich eines? Oder nur Schrott, in den sie noch viel Geld investieren muß? Immerhin rollt das Ding, hat Luft auf den Reifen und die Schaltung scheint auch zu funktionieren. Nur die Schutzbleche klappern; aber das sollte schnell hinzubekommen sein.

Bei anderen Rädern sieht das schon schlechter aus. Sie kommen ohne Sattel. Oder mit losem Hinterrad. Oder mit verbogener Gabel, auf jeden Fall mit jeder Menge Arbeit. Gefragt sind die wenigen Kinderräder. Für sie rasen die Gebote zügig auf 30 oder 40 Euro. Das ist billig, wenn man bedenkt, wie lange so ein Rad genutzt wird bevor ein größeres nötig wird.

"Die Nummer 45", sagt der Auktionator. "Ein 26er Mountainbike mit 21-Gangschaltung. Fünf Euro." Wieder sind die Hände oben, wieder geht es zügig. "Verkauft für 55 Euro." Wenige Momente später schiebt ein Student sein neues, altes Rad aus der Halle. "Ein 28er Damenrad, Kettenschaltung, fünf Euro." Wie es sich gehört, geht dieses Damenrad auch an eine Dame, eine ganz junge. Bei der Abholung macht ein Reporter des Elbe-Wochenblatts Fotos. Ein paar Meter weiter führt eine Kollegin von NDR 90,3 Interviews. Erstaunlich, für wie wichtig die Medien so eine Fahrradversteigerung einschätzen. Mutter und Tochter strahlen für mich vor der Tür in die Kamera. "Drei Mal", berichtet die Mutter über ihre Tochter, "ist ihr das Rad schon geklaut worden. Ich hab es satt." Jetzt haben sie eines ersteigert und sind froh. Muss wohl noch beim Fahrradhändler überholt werden, meinen sie. Stimmt,  Tochter nestelt an der verrostete Kette, die vom vorderen Blatt geprungen ist. Licht geht auch nicht, weil der Dynamo wackelt.

"Halbzeit", ruft der Auktionator. "Bitte Applaus für die Helfer, die unermüdlich die Räder auf die Bühne schieben." Brav klatschen die Besucher in die Hände - ein bißchen Show gehört einfach dazu. Die meisten im Publikum wollen nur ein billiges Alltagsrad, meistens weil ihr altes gerade (mal wieder) geklaut wurde. Oder weil sie frisch nach Hamburg gezogen sind. Oder das Auto verkauft haben. Vor allem junge Frauen steigern mit. Aber auch ältere Herren, die Gebrauchträder reparieren und weiter verkaufen. Und dann sind da die Spezialisten, die auf ein Rennrad mit Brooks-Sattel und Shimano Dura Ace für 100 Euro hoffen. Kommt aber eher selten vor. Aber man weiß ja nie. Dann, endlich, rollt die Nummer 70 auf die Bühne. "Mein" Klapprad. Aber noch ist es ja nicht meines. Will das noch einer außer mir? Bis wohin soll ich mit steigern? Wer wird mit bieten?

Der Typ dahinten mit der Prinz-Heinrich-Mütze? Oder der Weißschopf am Rand? Oder der Hippster mit dem Schnurrbart in der Mitte, der aussieht als sucht er noch ein Gefährt für den Klapprad-Weltcup  am 19. Mai in Berlin? Oder die Frau mit der bunten Strickmütze? Schon spannend, wie bunt das Publikum gemixt ist. Ich taxiere meine vermutlichen Gegner. Der da, in der dritten Reihe, den habe ich doch schon mal auf einem Fahrrad-Flohmarkt gesehen. Ein Profi! Mist, denke ich, der treibt den Preis bestimmt viel zu hoch. Also, wie hoch soll ich denn nun gehen? 50? Oder 70? Ich entscheide mich für 70? Keinen Cent mehr; wirklich nicht. Komisch, obwohl ich schon oft bei Versteigerungen war, habe ich Lampenfieber.

Das gibt es doch nicht. Warum bin ich so nervös? Hab ich Angst, dass mir das Rad durch die Lappen geht? Oder fürchte ich, unnötig viel Geld auszugeben? Keine Ahnung, warum ich innerlich irgendwie zappelig bin. Nach außen mime ich natürlich den coolen, verziehe keine Miene und mustere das Rad, während es an mir vorbei geschoben wird. Aha, eine dicke Hinterradnabe. Das spricht für Duomatic. Damit ist das Teil schon mal mindestens 40 Euro wert, selbst wenn man alles außer der Nabe wegwirft. Duomatics werden bei E-Bay zwischen 30 und 50 Euro gehandelt. Soll ich doch höher als 70 gehen?

Es geht los: "Fünf Euro, zehn, 15, 20, 25, 30, 35..." Mist, für meinen Geschmack schießen die Gebote viel zu schnell nach oben. Noch halte ich mich zurück. Bei 45 Euro scheint Schluß zu sein. "45 zum Ersten, 45 zum Zweiten..." - ich zögere, warte noch eine Zehntelsekunde, dann reiße ich entschlossen die rechte Hand hoch. Der Auktionator sieht es sofort und ruft: "50 Euro in der Mitte. Jemand mehr?" Stille. Nichts. Keine Reaktion. Drei, zwei eins, meins..., schießt es durch mein Hirn. Geil, ein Schnäppchen. "50 zum Ersten, 50 zum Anderen und 50..." - unerwartet hält doch noch einer dagegen: "55 Euro" sagt der Versteigerer und zeigt auf einen unbekannten Gegner hinter dem Pfeiler. Hey, was soll das? Warum macht der Typ weiter? Ich gönne ihm den Triumph nicht, suche und finde Augenkontakt mit dem Auktionator. "55 zum Zweiten und...". Meine Hand ist wieder oben. Blitzartig zeigt der Auktionator auf mich und sagt: "60 Euro. 60 Euro zum Ersten, 60 Euro zum Zweiten..." - er macht eine kurze Kunstpause. Man, mach schon, denke ich. "Und 60 zum Dritten. Für 60 Euro verkauft an den Herren in der Mitte." Der Herr bin ich. Jaaa, ich hab es! Sieggefühle. Ein grünes Klappi aus den 70ern, wahrscheinlich mit Duomatic.

Aber wird sie auch funktionieren? Neugierig laufe ich zur Kasse: "Die Nummer 70", sage ich. "60 bitte", antwortet die Frau hinter der Scheibe. Ich schiebe erst einen Fünfziger und einen Zehner durch den Kassenschlitz, anschleißend ein altes Steckrad der Marke Torpedo aus der Halle. Hat sich also doch noch gelohnt, der Ausflug nach Altona. Denn sogar Luft ist noch auf den Reifen, so dass ich gleich losfahren kann. Rollt gut, bremst auch, nichts klappert, sogar Licht geht. Was ist mit der Schaltung? Ein kurzer Tritt nach hinten, um den Gang der Duomatic zu wechseln. Aber es ändert sich nichts. Scheiße! Wahrscheinlich kaputt, Nabeninnereien verharzt. Ich probiere es noch ein paar Mal, doch ein Schnellgang lässt sich nicht aktivieren. Der Trittwiderstand bleibt gleich. Ich richte mich geistig auf eine Nachtschicht mit einer defekten Duomatic ein. Na, das wird Madame ja wieder freuen.

So dahinsinnierend erhöhe ich das Tempo, mein Tritt wird kräftiger, schneller. Verflucht, was ist denn nun los? Plötzlich schaltet die Nabe doch noch in den Schnellgang. Ich bin wie elektrisiert. Das kann doch nicht, das wird doch nicht etwa..., kann das eine Automatic sein? Mein Gedanken rasen, das Rad auch. Vollbremsung und sofort die Nabe inspiziert. Tatsächlich steht auf der Hülse Fichtel & Sachs Automatic. Das ist die nach der Duomatic entwickelt Zweigang-Nabe, die erheblich seltener, viel gesuchter und damit auch teuer (E-Bay oft 100 Euro und mehr) ist. Und funktionieren tut sie auch. Also ist das Torpedo-Klappi auf jeden Fall ein Schnäppchen. Rechts auf der Nabe sehe ich nun auch die unter Dreck versteckte blaue Banderrole, auf der 2-Gang-Automatic prangt. 20 bis 24 Zoll-Räder wurden einst mit der blauen Version ausgestattet, die bei einem Tempo von 16 bis 18 km/h gesregelt durch Fliehkraftgewichte in den Schnellgang schaltet - ein geniales Prinzip, weil es ohne jede Zug und Betätigungen des Fahrers auskommt.

Naben mit roter Banderrole sind noch seltener, weil sie in 28er Räder verbaut wurden. Meist sind sie nur in Rädern aus Holland und Schweden anzutreffen. Mit gutem Gefühl und voll Besitzerstolz fahre ich mein Automatic-Torpedo in meinen Fahradkeller und kann die Frage Schrott oder Schnäppchen heute eindeutig beantworten: SCHNÄPPCHEN!

3 Kommentare:

  1. hey, nur kurz der hinweis, falls dieser satz dich beschreiben sollte (du standest ja auch in der mitte):
    "Oder der Hippster mit dem Schnurrbart in der Mitte, der aussieht als sucht er noch ein Gefährt für den Klapprad-Weltcup am 19. Mai in Berlin?"

    auf dem cup sind nur 20" zugelassen ;)
    http://world-klapp.de/rennen/reglement/

    lg, j

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  2. Hallo j.: Klar, Du hast natürlich recht. World-Klapp erlaubt maximal 20-Zöller und auch nur Eingang-Modelle. So gesehen ist das ersteigerte Rad doppelt illegal. Aber ich freue mich trotzdem darüber. Dein Hinweis "nur 20er" ist auch nicht ganz korrekt. Wenn ich die Ausschreibung (http://world-klapp.de/rennen/klapprad/) richtig verstehe, sind auch kleinere Räder, also 18 oder 16 Zoll zugelassen. Darum plane ich auch auf einem 12 Zoll-Klappi zu starten. Dazu demnächst mehr in diesem Blog.

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  3. Wie an einem Gehege begaffen neugierige Besucher die Fahrräder ... hollandfahrraeder.blogspot.de

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